Modern Gotic - Zwischen Mystik und Manifest


Marianne Stokes Melisande, um 1895 ©Wallraf Rueckartz C.


War die Moderne wirklich ein kategorischer Abschied von allem, was davor lag? Die Wiener Albertina stellt sich diese Frage und tritt mit ihrer aktuellen Ausstellung Gothic Modern – Munch, Beckmann, Kollwitz den Beweis an, dass die großen Revolutionäre der Kunst ihre eigentliche Essenz in der Vergangenheit suchten. Statt einer bloßen Retrospektive liefert das Museum eine beinahe subversive Gegenüberstellung, die beweist, dass die Meister des Symbolismus und Expressionismus ihre dramatischsten und dunkelsten Inspirationen aus der existenziellen Kraft der Gotik schöpften.

Die Ausstellung versammelt rund 200 Hauptwerke der Moderne aus der wegweisenden Ära zwischen 1875 und 1925, darunter Arbeiten von Paula Modersohn-Becker, Otto Dix, Vincent van Gogh, Gustav Klimt, Egon Schiele und Helen Schjerfbeck und stellt sie in einen direkten visuellen Austausch mit ikonischen Gemälden, Grafiken und Skulpturen Alter Meister. Auf diese Weise wird sichtbar, dass die Moderne weit weniger einen fundamentalen Bruch mit der Geschichte markierte, als eine gezielte, bewusste Bezugnahme auf die Kunst des Spätmittelalters.

Akseli Gallen Kallela ad Astra, 1907 Villa Gyllenberg © Matias Uusikylae-Signe and Ane Gyllenberg Foundation

Hugo Simberg Der verwundete Engel, 1903 Atheneum Helsinki

Künstlerinnen und Künstler von Kaliber wie Edvard Munch, Max Beckmann und Käthe Kollwitz ließen sich bewusst von der ausdrucksstarken Ästhetik eines Holbein, Dürer, Cranach oder Baldung Grien inspirieren. Sie fanden in der gotischen Kunst eine unverfälschte und oft schonungslose Ausdrucksform sowie Sujets, die ihrer eigenen Suche nach Wahrhaftigkeit näherkamen als die allzu glatten, akademisch vermittelten Normen ihrer Zeit.

Was die Gotik für die Avantgarde des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts so unwiderstehlich machte, war ihre tiefe emotionale Ausdruckskraft und die schonungslose Auseinandersetzung mit den existenziellen Fragen des menschlichen Daseins. Themen wie Liebe, Sexualität, Tod, Trauer, Glaube und Zweifel sowie die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Rollen und Identitäten waren bereits im Mittelalter präsent und blieben für die Kunst der Moderne von zentraler Bedeutung.

Gerade in den zumeist religiösen Darstellungen der Gotik erkannten die modernen Meister zutiefst menschliche Gefühle wie Leid und Verzweiflung, die ihnen als Anknüpfungspunkt für die künstlerische Verarbeitung ihrer eigenen Seelenzustände und existentiellen Krisen dienten. Die Künstler nahmen keinen rein historischen oder nationalen Blick auf dieses Zeitalter ein, sondern ließen sich von der expressiven, oft als archaisch empfundenen Bildsprache inspirieren. Sie waren ebenso fasziniert von traditionellen künstlerischen Techniken wie Holzschnitt und Buchkunst, die nun wiederentdeckt und kühn in die aktuelle Kunstproduktion integriert wurden.

Die Ausstellung, die in Kooperation mit der Finnish National Gallery / Ateneum Art Museum in Helsinki und The National Museum of Art, Architecture and Design in Oslo entstand, macht diese transnationalen Einflüsse sichtbar. Besonders in den deutschsprachigen und nordeuropäischen Ländern manifestierte sich die Rückbesinnung auf die Ästhetik der Gotik auf eindrucksvolle Weise. Wien selbst war um 1900 ein bedeutender Schmelztiegel für diese innovativen künstlerischen Strömungen und ein wesentlicher Knotenpunkt in der transnationalen Vernetzung Kunstschaffender.

Künstler wie Akseli Gallen-Kallela, Käthe Kollwitz oder Edvard Munch stellten in der Wiener Secession aus und traten in einen fruchtbaren Austausch mit der lokalen Kunstszene, auch Max Beckmann oder Helen Schjerfbeck suchten hier Inspiration. Gothic Modern zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie zeitgemäß und innovativ gotisches Kunstschaffen in Form und Ausdruck bereits war, und lässt an manchen Stellen die Grenzen zwischen alt und neu elegant verschwimmen.


Gothic Modern - Munch, Beckmann, Kollwitz
19. September - 11. Januar 2026

Albertina / Albertinaplatz 1 / 1010 Wien
Täglich 10 – 18 Uhr


Sandra Böhm

Sandra Böhm hat ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht und schreibt als freie Autorin für verschiedene Lifestyle-Magazine. Eine weitere Passion ist die Kunst. Als Autorin für PAJO ONE lassen sich beide Vorlieben trefflich miteinander verbinden. 

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