Das Einhorn - Eine Geschichte von Anmut, Obsession und Magie


Marie Cécile Thijs Einhorn, 2012
Aus der Serie Pferde
Tintenstrahldruck 2025 auf Fine Art Baryt, aufgezogen auf Dibond mit Plexiglas und schwarzem Holzrahmen, 120 x 150 cm
© Marie Cécile Thijs, courtesy SmithDavidson Gallery


Vielleicht ist es das Einhorn das einzige Wesen, das wir vermissen, obwohl wir ihm nie begegnet sind. Es entzieht sich, es lockt, und doch bleibt es stets im Bereich des Unsichtbaren, ein Schatten am Waldrand unseres kollektiven Bewusstseins. Über Jahrhunderte hinweg wurde es gejagt, in kostbaren Folianten beschrieben und als Symbol für das Absolute verehrt, ohne dass je ein biologischer Beweis seiner Existenz erbracht wurde. Wir kennen seine Attribute – die Reinheit, die Wildheit und vor allem jene ikonische, spiralförmig gewundene Verlängerung auf der Stirn, die ihm magische Kräfte verleiht.

Wer dieser Tage durch die hohen, lichtdurchfluteten Räume des Museums Barberini in Potsdam wandert, begibt sich auf eine Spurensuche, die weit über die glitzernde Popkultur-Oberfläche der letzten Jahre hinausgeht. Die Ausstellung Einhorn. Das Fabeltier in der Kunst wagt den schwierigen Spagat zwischen mittelalterlicher Mystik und der fast schon aggressiven Ubiquität eines modernen Konsumartikels, ohne dabei die Würde ihres Protagonisten zu verletzen.

Der erste Eindruck ist Stille. Man erwartet Kitsch, doch man bekommt Ehrfurcht. Die Kuratoren haben verstanden, dass das Einhorn in der Kunstgeschichte nie nur dekoratives Beiwerk war, sondern stets eine Chiffre für das Unerreichbare. Auf den schweren Wandteppichen des Spätmittelalters, die hier in gedämpftem Licht eine fast sakrale Aura entfalten, ist das Tier kein niedlicher Begleiter, sondern ein wildes, unzähmbares Geschöpf, das sich nur der absoluten Reinheit unterwirft.

Arnold Böcklin Das Schweigen des Waldes, 1885
Holz, 73 × 59 cm
Muzeum Narodowe w Poznaniu, Posen

Italienisch (Veneto) Jungfrau mit Einhorn, um 1510Öl auf Leinwand, 28 × 39 cm
Rijksmuseum, Amsterdam

Ein scharfer Kontrast zu den zarten Elfenbein-Schnitzereien der Nachbarkabinette, in denen das gedrehte Horn – das legendäre Alihukorn – in Gold gefasst inszeniert wird. Das Horn, spiralförmig gewunden, war in den Wunderkammern der Renaissance Beweisstück und Heilmittel zugleich, ein Objekt wissenschaftlicher Begierde, das die Grenze zwischen Realität und Fantasie durchbrach. Es ist faszinierend zu beobachten, wie die Ausstellung diese Ambivalenz herausarbeitet:

Beim Gang durch die Epochen wird deutlich, wie sehr sich der Blick auf das Fabelwesen gewandelt hat, ohne dass es seinen Kern verlor. In den Werken des Symbolismus, die im Barberini besonders eindringlich inszeniert sind, wird das Einhorn zum Träger melancholischer Sehnsüchte. Es steht nicht mehr nur für christliche Ikonografie, sondern für eine entrückte, traumhafte Erotik und das Geheimnisvolle an sich.

Gustave Moreaus Interpretationen oder die zarten Linien der Jugendstil-Grafiken zeigen ein Wesen, das für eine Welt steht, die sich der Industrialisierung und der Entzauberung verweigert. Es ist dieser Moment der Ausstellung, der den Betrachter berührt: die Erkenntnis, dass wir dieses Tier erfunden haben, weil die Realität allein uns nie genügt hat.

Olaf Nicolai La Lotta, 2006
Präpariertes Fell, Horn, Polyester, elektrische Heizung, Temperatursteuerung, 153 × 215 × 155 cm
Privatsammlung © VG Bild-Kunst, Bonn 2025

Natürlich kommt eine solche Schau nicht ohne den Bruch zur Moderne aus, doch geschieht dieser in Potsdam erfrischend subtil. Anstatt den Besucher mit einer Flut aus pinkfarbenem Plastik zu erschlagen, wird die Transformation zur Pop-Ikone als soziologisches Phänomen seziert.

Wie wurde aus dem unnahbaren, oft gefährlichen Tier der sanfte Gefährte auf Regenbögen? Die Ausstellung gibt darauf keine plumpe Antwort, sondern lässt zeitgenössische Positionen sprechen, die das Einhorn als Symbol für Queerness, Individualität und eine fast trotzige Naivität in einer komplexen Welt neu aufladen.

Das Museum Barberini beweist mit dieser Schau erneut sein Gespür für Themen, die auf den ersten Blick gefällig wirken, in der Tiefe aber eine erstaunliche kulturhistorische Wucht entfalten. Wenn man am Ende wieder in das klare Licht des Potsdamer Himmels tritt, bleibt nicht das Bild des bunten Fabeltiers im Kopf, sondern das Gefühl einer leisen Melancholie.

Das Einhorn bleibt, auch nach diesem umfassenden Rundgang, was es immer war: ein wunderschönes Versprechen, das niemals eingelöst werden kann. Und genau darin liegt seine Unsterblichkeit.


Einhorn. Das Fabeltier in der Kunst
25. Oktober 2025 bis 1. Februar 2026

Museum Barberini / Humboldtstraße 5–6 / 14467 Potsdam
Mittwoch bis Montag 10-19 Uhr


Anne Harting

Chefredakteurin und Herausgeberin

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